Roth, S. (2020).
Algorithmen zur nichtlinearen Stabilitätsanalyse dünnwandiger Strukturen [Doktorarbeit, Bericht Nr. 71, Institut für Baustatik und Baudynamik, Universität Stuttgart].
https://doi.org/10.18419/opus-11239
Zusammenfassung
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Stabilität von Tragwerken reicht in der Geschichte weit zurück. Leonhard Euler befasste sich bereits im Jahr 1744 mit dem Stabilitätsversagen druckbelasteter Stäbe. Bis heute ist die Frage nach der Stabilität in vielen Bereichen, vom Bauwesen bis zur Luft- und Raumfahrt, relevant für die Bemessung und Konstruktion einzelner Bauteile sowie gesamter Tragstrukturen. Die Analyse eines Tragwerks hinsichtlich seiner Stabilität kann dabei in drei Abschnitte untergliedert werden: erstens die Untersuchung des Systems vor dem Stabilitätsversagen, zweitens die Eigenschaften des Systems an einem kritischen Punkt sowie drittens die Untersuchung des Verhaltens im Nachbeulbereich. Für eine geometrisch nichtlineare Analyse des Vor- und Nachbeulbereichs existiert eine Vielzahl inkrementell-iterativer Lösungsverfahren, die seit den 1970er Jahren entwickelt wurden. Sie ermöglichen die zuverlässige Berechnung nichtlinearer Gleichgewichtspfade einer Struktur, auch wenn diese in Last oder Verschiebung rückläufig sind. In den vergangen Jahrzehnten wurden diese Methoden stetig weiterentwickelt und verbessert, etwa durch die Erweiterung auf mehrere Parameter. So lassen sich für Systeme mit mehreren Veränderlichen die resultierenden Gleichgewichtspfade zu Gleichgewichtsflächen erweitern. Mithilfe begleitender Maßnahmen kann zudem an jedem Gleichgewichtspunkt eine Aussage über die Stabilität des Systems getroffen werden. Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf dem zweiten der oben genannten Punkte. Es werden Methoden präsentiert, die eine direkte Berechnung von Durchschlags- und Verzweigungspunkten für Systeme ermöglichen, die durch eine von außen aufgebrachte Knotenverschiebung belastet werden. Hierfür wird die für Kraftlastfälle bereits verfügbare Methode der erweiterten Systeme, die in der Literatur meistens mit dem englischen Begriff Extended Systems bezeichnet wird, modifiziert und ergänzt. Für die direkte Berechnung von Durchschlagspunkten wird die Residuumsgleichung für das Gleichgewicht um eine Stabilitätsbedingung erweitert. Diese ist ausschließlich an kritischen Punkten erfüllt und lässt sich aus dem Indifferenzkriterium nach Euler herleiten. Eine Nebenbedingung, die eine triviale Lösung vermeidet und die Anzahl der Gleichungen und die Anzahl der Unbekannten ausgleicht, ergibt sich aus der Normierung der Länge des Eigenvektors. Für die direkte Ermittlung von Verzweigungspunkten muss zusätzlich das Kriterium zur Unterscheidung von Durchschlags- und Verzweigungspunkten für den Fall inhomogener Dirichlet-Randbedingungen neu hergeleitet werden. Nach einer konsistenten Linearisierung des nichtlinearen Gleichungssystems lässt sich die Lösung mittels inkrementell-iterativer Methoden ermitteln. Mit den präsentierten Methoden wird das Anfangsnachbeulverhalten für Systeme mit inhomogenen Dirichlet-Randbedingungen numerisch analysiert, wodurch die bisherige Kategorisierung nach Koiter (1967) erweitert wird. Zur Linearisierung des nichtlinearen Gleichungssystems ist die Ermittlung einer Richtungsableitung der Steifigkeitsmatrix in Richtung des Beulvektors erforderlich. In der bisherigen Literatur wird die Ableitung mittels Differenzenquotienten angenähert. Diese Methoden benötigen eine geringe Rechenzeit, ihre Eigenschaften hängen jedoch von einem Parameter, der Größe des Differenzenschritts, ab. Wird dieser zu groß oder zu klein gewählt, ist der resultierende Fehler zu groß und die iterative Berechnung konvergiert nur langsam oder gar nicht zur gesuchten Lösung. In dieser Arbeit werden erstmals Methoden zur Ermittlung totaler und partieller Ableitungen, die auf hyperkomplexen Zahlen basieren, mit der Methode der Extended Systems kombiniert. Diese Methoden sind unabhängig von der Parameterwahl und ermöglichen eine exakte Berechnung erster und zweiter Ableitungen. In der vorliegenden Arbeit werden die beschriebenen Methoden auf die Ermittlung der Richtungsableitung übertragen. Bei der Untersuchung der Tragfähigkeit einer stabilitätsgefährdeten Struktur haben Imperfektionen einen großen Einfluss auf die Traglast. Bereits kleinste Abweichungen in der Geometrie eines Tragwerks oder Eigenspannungen im Material können, besonders bei schlanken Tragwerken, zu einer deutlichen Abminderung der Traglast führen. Um den Einfluss geometrischer Imperfektionen genauer untersuchen zu können, werden in dieser Arbeit zwei Methoden präsentiert, die sich in ihrem Umgang mit Imperfektionen grundlegend voneinander unterscheiden. Bei der ersten Methode ist die Imperfektionsform eine gegebene Größe. Durch eine effiziente, sich wiederholende Berechnung kritischer Punkte für eine Vielzahl an Imperfektionsformen oder -amplituden lassen sich damit kritische Pfade ermitteln. Dies geschieht in der vorliegenden Arbeit durch eine geeignete Wahl der Prädiktoren für die unterschiedlichen Imperfektionsformen bzw. über eine zusätzliche Erweiterung der Gleichungssysteme zur direkten Berechnung kritischer Punkte um eine Zusatzgleichung zur Pfadverfolgung. Bei der zweiten Methode werden die Imperfektionen als Unbekannte in das Gleichungssystem eingebracht. Durch eine zusätzliche Bedingung, die sich aus der Variation des Potentials nach den Imperfektionen ergibt, sowie das Einbinden der Nebenbedingung über eine Straffunktion lassen sich mit dieser Methode ungünstigste Imperfektionsformen finden. Diese Methode ist eine Weiterentwicklung der von Deml und Wunderlich (1997) vorgschlagenen Vorgehensweise. Abschließend werden die hier vorgestellten Methoden und Algorithmen an einer Auswahl an numerischen Experimenten demonstriert. Anhand der Beispiele wird u. a. gezeigt, dass die Richtungsableitung für eine Vielzahl an Elementformulierungen effizient ermittelt werden kann. Hierbei kommen vom einfachen ebenen Stabelement über isogeometrische Schalenelemente bis hin zu Volumenschalenelementen, die durch eine Erweiterung des Verzerrungsansatzes künstliche Versteifungseffekte reduzieren, zum Einsatz. Zudem wird die Anwendbarkeit der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Methoden auf nichttriviale Systeme im Rahmen der Finite-Elemente-Methode mit vielen Freiheitsgraden nachgewiesen.